Es dauerte fünfzig Jahre, bis das Ackermann-Büchlein des Johannes von Saaz unter die Leute kam. Aus seinen Lebzeiten ist keine Abschrift bekannt. Zwischen 1450 und 1550 sind dann jedoch sechzehn Handschriften und fünfzehn Buchdruckausgaben entstanden. Der erste erhaltene Druck um 1460 stammt aus Bamberg, wo damals eine von drei Druckereien in Deutschland stand. Zum Vergleich: In ganz Europa gab es 1470 nur sechzehn Druckorte. In Prag wurde 1487 zum ersten Mal gedruckt. Berücksichtigt man, dass die erhaltenen Exemplare nur einen Bruchteil der damals verbreiteten Manuskripte und Inkunabeln ausmachen, wird klar, daß Johannes von Saaz mit seinem Text einen Nerv der Zeit getroffen haben muss.
Die geistige Wirkung, die der „Ackermann“ erzielte, lässt ich generell nur an den zahlreichen Auflagen abschätzen. Kein anderes deutsches Werk wurde vor 1500 auch nur annähernd so oft gedruckt. Aber wir haben auch einen Beleg für seinen direkten Einfluss auf die nachfolgende Humanistengeneration. Der Doktor in Kirchenrecht aus fränkischer Adelsfamilie, Albrecht von Eyb (1420-1475), war nicht nur als Kanoniker erfolgreich, sondern auch als Dichter, Rhetoriker und Sittenlehrer. Unter anderem verfasste er ein „Ehebüchlein“ (1472), in dem er die Ehe dringend empfiehlt und die Frau in vielen Belangen als dem Manne überlegen beschreibt. Es ist bekannt, dass er sich dabei vom Frauenlob im „Ackermann“ inspirieren ließ. Auch das Ehebüchlein war ein großer Verkaufserfolg.
Mit der Reformation starb jedoch das Interesse am „Ackermann“ nach und nach und erwachte erst wieder zu Zeiten des Nationalismus. Dabei änderte sich auch die Leserschaft. In Mittelalter und Renaissance war vornehmlich Süddeutschland Verbreitungsgebiet des „Ackermann“. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert begeisterte man sich dagegen erstmals in Böhmen für ihn – in den deutschsprachigen Gebieten der Tschechoslowakei.
Vielleicht ging das neuerliche Interesse auf das Werk von Johann Knieschek zurück, das 1877 in Prag erschienen war. Dabei handelt es sich um eine kritische Ausgabe des altdeutschen Originaltextes, die im Kommentar mit dem tschechischen Tkadleček („Weberlein“) verglichen wird, einer gleichzeitig mit dem Ackermannbüchlein erschienenen tschechischen Dichtung eines sonst unbekannten Ludvík. Darin klagt ein Weber, den seine Geliebte verlassener hat, in hohem rhetorischen Ton das grausame Schicksal an. In Struktur und Argumentation ist das Werk durchaus dem „Ackermann“ ähnlich. Es wirkt fast wie eine Parodie darauf.
Vierzig Jahre später war der Gegenstand dieser gelehrten Arbeit in den Niederungen völkischer Propaganda angekommen. Nach dem ersten Weltkrieg fanden sich die Deutsch-Böhmen in einem tschechischen Staat wieder, gegen den viele glaubten, ihr Deutschtum verteidigen zu müssen. In diesem Kampf kam ein Text, der als erstes frühneuhochdeutsches Sprachzeugnis hoch gelobt wurde, den Volkstumskriegern gerade recht. 1924 bezeichnete der Literaturhistoriker Josef Nadler das Werk als „größte und schönste Schöpfung des mitteldeutschen Siedlungslandes und des ganzen neudeutschen Ostraumes“. 1933 machte in Karlsbad eine Zeitschrift „Der Ackermann aus Böhmen. Monatsschrift für das geistige Leben der Sudetendeutschen“ von sich reden. Darin feierte man den Ackermann als deutschen Menschen, der sich gegen das Schicksal auflehnt – gemeint was das aktuelle politische.
Der Keim für diesen Missbrauch wurde im 19. Jahrhundert gelegt. Die Verknüpfung von Sprache und Nation verführte zur Idee eines ursächlichen Zusammenhangs beider. Man glaubte, die Begeisterung der Renaissance für die Volkssprache und die Verdrängung des Lateins in Verwaltung, Diplomatie und zuletzt auch in der Bildung habe etwas mit dem „Bewusstwerden der Völker“ zu tun. Das war jedoch eine unzulässige Rückprojektion moderner Zustände auf das Mittelalter.
Die deutsche Sprache, die in der königlichen Kanzlei von Prag seit Kaiser Karl IV. das dort übliche Latein ersetzte, sollte es dem „gemeinen Volk“ ermöglichen, Verwaltungsakte nachzuvollziehen und zu kontrollieren. Die deutschen Schriften lateinischer Gelehrter dienten dazu, mehr Menschen – vor allem aus Adel und Handelsbürgertum – in den Stand der Bildung zu setzen. Das Wissen antiker Dichter und Geschichtsschreiber sollte nicht nur die geistige, sondern auch die politische Bildung fördern.
Niemand dachte daran, durch Sprachpflege „Nationen“ zu erziehen. „Deutsche Nation“: darunter verstand man damals Menschen, die in einem Gebiet wohnten, das man „Deutschland“ nannte. Dazu gehörten auch Niederländer, Franzosen, Slawen und Dänen. Entsprechend bestand aus Tschechen, Deutschen, Mährern, Slowaken, Polen und Ungarn. Die Pflege der Volkssprache diente nicht völkischen, sondern philologischen und rhetorischen Zwecken. Nicht nationale Gegensätze bestimmten das 15. und 16. Jahrhundert, sondern religiöse und soziale. Der nationale Kult, den die Sudentendeutschen seit dem ersten Weltkrieg um den „Ackermann aus Böhmen“ aufführten, war deshalb ein fatales Missverständnis.
Ein anderes Missverständnis war der Versuch konservativer Kräfte, den „Ackermann“ nach 1945 zu katholisieren. Sie erklärten die humanistische Streitschrift zu einem Trostbüchlein, das Gottes Gnade feiert. Dies mag man hineinlesen, wenn man das besagte Gebet tatsächlich Johannes von Saaz zuschreibt und nicht einem späteren Bearbeiter. Der rebellische Charakter des Dialogs rechtfertigt indes nicht die Annahme, Johannes sei ein Verteidiger der katholischen Gnadenlehre gewesen.
Immerhin half die katholische Intervention, die nationalen Misstöne zum Verstummen zu bringen. In Deutschland sorgte in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eine Vielzahl von Neuauflagen, Bearbeitungen und wissenschaftlichen Arbeiten dafür, das Ackermann-Büchlein nicht wieder in Vergessenheit geraten zu lassen. Dazu kamen Lesungen, szenische Aufführungen, Vertonungen, Opern. In Tschechien übersetzte erstmals Pavel Eisner 1938 das Werk als Oráč a Smrt („Der Ackermann und der Tod“).
1954 versuchte Jaromír Povejšil eine Neuübersetzung, die aber in der kommunistischen Tschechoslowakei nicht erschienen durfte und erst 1985 zum Druck kam.
Nach der Wende stieg auch in Tschechien das Interesse an Johannes von Saaz. In seiner langjährigen Heimatstadt wurde die 1945 demontierte Gedenktafel am Rathaus erneuert, leider nur in Tschechisch, und er kommt auch in einer aktuellen Ausstellung zur Stadtgeschichte vor. Der deutsch-tschechische Streit um ihn ist beendet. „Wir sind davon überzeugt, dass sich heutzutage sowohl Tschechen als Deutsche zu Johannes von Schüttwa mit Stolz bekennen können“, heißt es in einem tschechischen Aufsatzband über ihn*). „Die Bewertung seines Lebens und Wirkens ist gegenwärtig nicht mehr davon abhängig, ob Historiker oder Historikerinnen dieser oder jener Nation angehören.“
Der „Ackermann“ gehört jetzt allen, er gehört Europa. Nun wünscht man sich noch, dass auch seine humanistische Botschaft von der Würde des Menschen (und auch der Frauen) wiederentdeckt würde.
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