MENSCH UND TOD IM MITTELALTER

Höllensturz, Ausschnitt eines Freskos in La Brigue, in der Wallfahrtskirche Notre-Dame-des-Fontaines,

Die christliche Theologie im Mittelalter hielt nicht viel vom Menschen. Ihr Menschenbild war weitgehend von stoischem und neuplatonischem Skeptizismus geprägt. Die Stoiker rieten aus Vernunftgründen zu Enthaltsamkeit und Verzicht in dieser wechselhaften Welt. Die Neuplatoniker sahen darüber hinaus in der Materie – dem Inbegriff der Welt – die Ursache allen Übels. Ihrer Meinung nach repräsentierte allein die Seele das Menschsein. Von dieser Lehre stark beeinflusst, hielt die christliche Lehre den menschlichen Leib mit seinen Trieben für die größte Gefahr der Gott suchende Seele. Die kirchliche Seelsorge bestand im Kampf gegen die Verführungen der Welt, die vom Weg zu Gott ablenkten. Sie sollte den Menschen auf das Jenseits vorbereiten. In diesem Menschenbild waren mönchische Weltflucht und Enthaltsamkeit die höchsten Ideale. Diese galten dann auch als Leitlinien christlicher Lebensführung.

Es waren vor allem die Franziskaner, die mit ihren Moralpredigten die irrenden

Aristoteles und Phylis – Frau als Sünde

Menschen auf den rechten Pfad zu bringen versuchten. Dazu gehörte die Verdammung des Leibes: “Ein Mensch wird in Sünden empfangen, mit unreinem, unaussprechlichen Unflat im mütterlichen Leibe genähret, nackt geboren, und ist ein beschmierter Bienenstock, ein rechtes Scheusal, ein Kotfass, eine Wurmspeise, ein faules Aas, ein bodenloser Sack, eine löchrige Tasche, ein buntes Leichenhaus. Ein jeder erwachsene Mensch hat neun Löcher in seinem Leibe, aus den allen fließet so scheußlicher und unreiner Unflat, daß es nichts Unreineres geben kann.“ So lässt Johannes von Saaz den Tod predigen.

Predigten von Berthold über den Tod, Teufel und die Sünde

„In Sünden empfangen“: in der Heiligen Schrift ist das auf den Ungehorsam im Paradies bezogen. In der Predigerpraxis zielte die Erbsünde jedoch auf die irdische Fleischeslust. Als stärkste Macht der Welt drohte die Sexualität von der Verehrung Gottes abzulenken. Weil sie so mächtig war, konnte sie nur des Teufels sein. Weil aber die Erbsünde den Tod in die Welt gebracht hatte, wurden Tod und Teufel identisch. Höllendarstellungen schilderten eindrücklich, was die sündigen Menschen nach dem Tod erwartete.

Als Quell der Sünde galt insbesonders die Frau. Nach der Paradieserzählung ist sie die Verführerin, die an der Verdammung des Menschen zum Tode schuld ist. Ein Grundzug des Mittelalters war infolge die Misogynie, das Verächtlichmachen der Frau. „Sobald ein Mann ein Weib nimmt“, lässt Johannes den Tod sagen, „sogleich hat er Klage und Plage, ein Joch, einen Fegeteufel, eine tägliche Rostfeile, die er auf rechtliche Weise nicht loswird, solange wir ihm nicht unsere Gnade erweisen. Ein beweibter Mann hat Donner, Hagel, Füchse, Schlangen alle Tage in seinem Hause. Siech zur Arbeit, gesund zur Wollust, wie sie es braucht. Dies ist ihr zu süß, das ist ihr zu sauer; dies ist zu viel, das ist zu wenig; nun ist es zu früh, nun ist es zu spät – so wird alles getadelt.“

Totentanz, kolorierter Holzschnitt von Michael Wolgemut, aus Hartmann Schedels „Weltchronik“

Seit dem 14. Jahrhundert vermehrten sich die Höllen- und Todesbilder. Der personifizierte Tod, bisher in Sterbeszenen stoische Randfigur, wurde zu einer dramatischen Hauptperson, die als Pfeilschütze die Menschen jagt, sie als Sensenmann niedermäht oder in wildem Tanze mit sich reißt. Noch vor den Qualen der Hölle verbreitete die Todesfigur als verwesende und skelettierte Leiche Angst und Schrecken. „Auf schnellem Fuß eilt der Menschen Leben dahin: jetzt noch lebend, im Handumdrehen gestorben. Jeder Mensch ist uns ein Sterben schuldig, und es ist ihm angeerbt zu sterben. Das Leben ist um des Sterbens willen geschaffen. Jeder Mensch muss irgendwann von uns umgestürzt, durchgewalkt und rundgeschliffen werden. Das glaube, du üppiger Gäubauer!“ Starke Worte.

Verstorbenes Liebespaar, Maler unbekannt, Oberrhein um 1470 (Frauenwerkmuseum Straßburg). Die Schlange der Sünde umschlingt sie beide, auf der Scham de

Bei einer derartigen Zentrierung des Menschsein auf die Jenseitserwartung ist verständlich, dass die Vorbereitung auf den Tod große Bedeutung gewann. Man nannte sie etwas aufschneiderisch ars moriendi, die „Kunst des Sterbens“. Man verstand darunter die Organisation des Lebens als Vorbereitung auf den Tod, der einen jederzeit ereilen konnte, als fromme Zurüstung auf das Jenseits, wo einen das wahre Leben erwartete. Man hatte Angst vor einem Tod, der einen ohne seelische Vorbereitung ereilte. Das vom französische Mystiker Jean Gerson 1408 verfasste Werk De arte moriendi (1408) war das erste seiner Art und wurde viel kopiert. Der elsässische Theologe und Prediger Johann Geiler von Kaysersberg übersetzte es unter dem Titel „Wie man sich verhalten soll bei einem sterbenden Menschen“ (um 1481).

Johannes von Saaz griff dieser Literatur vor, wenn er seinen Herrn Tod sagen lässt: „Weißt du das nicht, so wisse es nun: Sobald ein Mensch geboren wird, ist ausgemacht, dass er sterben soll. Des Anfangs Geschwister ist das Ende. Wer ausgesandt wird, hat die Pflicht, wiederzukommen. Was ein Mensch entlehnt, das soll er zurückgeben. Als Fremde wohnen alle Menschen auf Erden.“ Auch Jugend und Schönheit sind nicht ewig: „Eines jeglichen Menschen Schönheit muss entweder das Alter oder der Tod vernichten. Alle rotfarbigen Mündlein müssen missfarben werden, alle roten Wängelein müssen bleich werden, alle lichten Äugelein müssen dunkel werden.“

Wer für längere Literatur keine Zeit hatte, konnte sich an Memento Mori erbauen, bildlichen Darstellungen des personifizierten Todes, die einen vor weltlichem Übermut bewahren sollten: „Gedenke des Todes!“ Beliebt war dabei das Motiv des „Totentanzes“, das Skelette in wildem Reigen zeigt oder wie sie Vertreter aller Stände im Tanz mit sich reißen: als Erinnerung und Warnung, daß der Tod alle gleichermaßen holt, ob arm oder reich, machtlos oder mächtig, jung oder alt – besonders gern aber junge hübsche Frauen. Darstellungen mit dem Titel „Der Tod und das Mädchen“, in denen der Tod die ahnungslose Frau wie ein Liebhaber umwirbt, ist bis heute ein populäres Motiv der Malerei.

Die Klage des Ackermanns über den plötzlichen Tod seiner jungen Ehefrau liefert gleichsam den Text dazu:

„Da steh ich armer Ackermann allein. Verschwunden ist mein lichtes Sternlein an dem Himmel. Mit vollem Rechte klage ich, denn sie war edel von Geburt, reich an

Der Baseler Totentanz, Aquarell von Rudolf Feyerabend, das dieser 1806 nach dem sechzig Meter langen und zwei Meter hohen Temperagemälde auf der Friedhofsmauer des Predigerklosters anfertigte.

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