Immer wachender Wächter aller Welt, Gott aller Götter, Urgrund aller Dinge, erhöre mich! Allerwürdigster ewiger Herr Jesu, nimm gütig auf die Seele meiner vielgeliebten Frau, die ewige Ruh gib ihr, mit Deiner Gnaden Tau labe sie, unter dem Schatten Deiner Flügel behalte sie; nimm sie, Herr, in das Reich der vollkommenen Zufriedenheit!“
Das Gebet zu Gott, aus dem diese Zeilen stammen, wird gemeinhin als vierunddreißigstes Kapitel des Dialogs zwischen Ackermann und Tod veröffentlicht. Es ist jedoch nur schwer zu glauben, dass es aus der Feder des Johannes von Saaz stammt. Von Gnade spricht im Dialog nur der Tod, und zwar von jener, die er den Menschen gewährt. Von dieser Gnade will der Ackermann jedoch nichts wissen. Das Gebet deutet deshalb auf einen späteren Bearbeiter hin, der dem humanistischen Geist des Ackermann-Büchleins eher fern stand. Das wundert nicht.
Der Humanismus, darüber muss man sich im Klaren sein, war Lebensgefühl und Philosophie einer Gelehrtenschicht, die nur von wenigen wahrgenommen und verstanden wurden. Nicht zufällig rechnet man das 15. Jahrhundert noch zum Mittelalter. Dabei war es eine Zeit aufgeregter Frömmigkeit, die erst mit dem Westfälischen Frieden 1648 zur Ruhe kommen sollte. Das Seelenbedürfnis im – nach heutigen Maßstäben – kleinen Saaz wurde durch fünfzehn Kirchen in neun Pfarren gestillt. Heute ist davon eine übrig, die Dekanatskirche.
Nach wie vor glaubten die meisten an Himmel und Hölle, an Wallfahrten und käuflichen Sündenablass, an die Fürbitte der Heiligen und die Gnadenwerke der Kirche. Vom Menschen, der sich selbst zum Menschen erzieht, ohne kirchliche Vormundschaft und Lenkung, hatten nur die wenigstens eine Ahnung. So war es denn auch nicht der Humanismus, vor dem sich die Kirche wirklich fürchtete. Einige Päpste waren selbst Humanisten oder standen deren Denken nahe. Umgekehrt stammten die meisten Humanisten aus kirchlichem Milieu, und einige blieben ihm verbunden.
Vielmehr war es eine Bewegung von unten, die der kirchlichen Hierarchie seit dem 14. Jahrhundert zunehmend zusetzte. Sie nahm nicht nur an Korruption und Heuchelei Anstoß, sondern räumte auch gleich mit einigen Dogmen auf. Sie nannten sich Waldenser und nahmen wesentliche Forderungen der lutherischen Reform vorweg – individuelles Bibelstudium und Laienpredigten etwa, auch die Ablehnung von Reliquienverehrung, Zölibat und Ablasswesen. Es ging um eine Selbstermächtigung der Gläubigen.
Als Funken im Pulverfass wirkte in Böhmen die Hinrichtung von Jan Hus, Prediger und Theologe, zeitweise Rektor der Karlsuniversität in Prag. In Anlehnung an den englischen Reformator John Wyclif entwickelte er ein eigenes Glaubens- und Kirchenmodell, das er beim Konstanzer Konzil 1415 vortrug. Er wurde dafür der Häresie angeklagt, und weil er nicht widerrufen wolle, wurde er verbrannt. Das radikalisierte seine böhmischen Anhänger. In seinem Namen fanden verschiedene Strömungen des religiösen Nonkonformismus zusammen: die Hussiten.
Die Hinrichtung von Hus zerstörte die Hoffnung aller, die auf einen kirchlichen Dialog gehofft hatten, der nicht sofort mit Gewalt von oben entschieden würde. Die gleichzeitigen sozialen Spannungen zwischen Landadel und königlich-kaiserlicher Herrschaft, zwischen Patriziern und Zünften in den Städten verführten dazu, die Machfrage zu stellen. Tatsächlich vermischten sich in den Hussitenkriegen religiöse und politische Zielsetzungen. Sie waren auch eine revolutionäre Bewegung, ein Aufstand gegen die Reichen und Mächtigen.
Die Hussitenkriege, die viel Blut kosteten, dauerten achtzehn Jahre und ruinierten Wirtschaft und Kultur Böhmens. Saaz war heftig an ihnen beteiligt, es galt als „Stadt der Sonne“, die den nahenden Weltuntergang überleben würde. 1421 widerstanden ihre Mauern dem Ansturm einer kaiserlichen Armee. Auch nach vorläufigem Frieden spielte Saaz eine führende Rolle im Glaubensstreit. Einen Gewinn hatte es davon nicht. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde die Bevölkerung – Protestanten gegen Katholiken – durch Flucht und Zuzug nahezu völlig ausgetauscht.
Man hat im Humanismus oft einen Wegbereiter der Reformation gesehen. In Wirklichkeit sind beide gleichzeitig entstanden. Dabei haben sie einiges gemeinsam: die Berufung auf biblische oder philosophische Originaltexte aus der Antike, deren Studium zu neuen Erkenntnissen führten; das Bibel- und Quellenstudium ohne autoritäre Vermittlung, sei sie kirchlicher oder universitärer Natur; die volkssprachliche Wissensvermittlung zur Erschließung neuer Bildungsschichten; freie Wahlen bei der Bestimmung geistlicher und weltlicher Ämter. Humanismus und religiöser Nonkonformismus wurzelten beide in einem neuen Menschenbild, das seit dem frühen 14. Jahrhundert allmählich in allen Lebensbereichen sichtbar wird.
Aber in zweifacher Hinsicht schlugen Humanisten und Reformatoren unterschiedliche Wege ein. Wo die Neugier der einen auf unbekannte Schriften und neue Argumente unbegrenzt war, beschränkten sich die anderen auf die Heilige Schrift als Quell aller Wahrheit. Und wo die einen zur Selbsterziehung aufriefen, war für die anderen das Glaubensbekenntnis Grundlage der Erziehung. Für humanistische Freigeister war das kaum attraktiv. Deshalb haben sich die meisten Humanisten von der Reformation ferngehalten, wie etwa Erasmus von Rotterdam.
Die Humanisten haben mit ihrem Kampf gegen die Scholastik, die sie als Fessel für das Denken ansahen, eine Spaltung der mittelalterlichen Gelehrtenwelt bewirkt, die andauerte. Durch die Spaltung der Christenheit entlang von Glaubensbekenntnissen wurden dem freien Geist erneut Fesseln anlegt, umso mehr, als die Konfessionen den Schutz weltlicher Mächte suchten, von denen sie bald abhängiger waren als je zuvor. Unglücklicherweise gelang es dem Humanismus, zu dessen Bildungsprogramm doch der politische Mensch gehörte, trotz vielversprechender Ansätze kaum, programmatischen Einfluss auf die Politik zu bekommen. Wenn doch, dann mussten sie sich an eine der Konfessionen verkaufen.
„O Jahrhundert! O Wissenschaften: Es ist eine Lust, zu leben. Die Studien blühen, die Geister regen sich! Du, Barbarei, nimm den Strick und mach dich auf Verbannung gefasst!“ jubelte Ulrich von Hutten. Die Mächte dieser Welt mochten Ketzer verbrennen und aufständige Haufen besiegen. Den Geist der Zeit konnten sie nicht austreiben. Was über Reformation und Gegenreformation hinweg blieb, war die geistige Selbstbefreiung des Menschen und das philologische Handwerkszeug, sich Zugang zu allem Wissen der Welt zu verschaffen. Der Humanismus mündete geradewegs in die Aufklärung.
Die Horizonterweiterung durch das Studium hebräischer, zoroastrische und pythagoräischer Schriften weckte auch das Verständnis für das Judentum. Dem schwäbischen Juristen, Poeten und Schriftsteller Johannes Reuchlin verhalf sein Hebräischerer, der kaiserliche Leibarzt Jacob ben Jechiel Loans zu höchster Achtung vor der jüdischen Gelehrsamkeit. In einem Klima religiöser Erregung und heftigen Anti Judaismus‘ am Vorabend der lutherischen Reformation äußerte er sich in einem Rechtsgutachten entschieden gegen die Absicht, alle jüdischen Schriften außer der hebräischen Bibel zu verbrennen. „Verbrennt nicht, was ihr nicht kennt!“ rief er seinen Gegnern in der Verteidigungsschrift „Augenspiegel“ (1511) zu.
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