HUMANISMUS I: RHETORIK, BILDUNG, POESIE

Im Schreiben, das Johannes von Saaz einem seiner Schüler für den Prager Bürger Peter Rothers mitgab, stellte er sein Libellus Ackerman, das „Ackermann-Büchlein“, als rhetorische Stilübung vor: „Hier wird Langes gekürzt, dort Kurzes erweitert, Lob wird durch Tadel in Schranken gehalten. Präzises wird ersonnen, ebenso schwebende Konstruktion, Gleichlautendes und Gleichbedeutendes. Hier gefallen sich Sprechtakt, Wortfolgen, Satzperioden in modischen Posen, dort treiben auf selbem Fleck Ernst und Scherz ihr Spiel. Metaphorik dient, Vorrede greift an und wird vernichtet, Ironie lächelt. Farben in Worten und Wendungen leisten ebenso Dienst wie Sprachfiguren.“

Johannes von Neumarkt in seinem selbst verfassten lateinischem Reisebrevier

Rhetorik, heute ein Orchideenfach, galt damals als Königin der Wissenschaften. Wir denken dabei an mehr oder minder nutzlose sprachliche Verzierungen, auch an Polemik und betrügerische Verführung. In der Antike, auf deren Werte sich der Humanismus berief, verstand man sie jedoch im Sinne Ciceros als ars movendi: als Kunst, seelische Bewegungen hervorzurufen und damit wiederum die Welt in Bewegung zu setzen.

Im Saazer Stadtbuch findet sich eine „Empfehlung der Rhetorik“, die offensichtlich von Johannes stammt: „Durch sie werden Gottes Wohltaten dem Gedächtnis der Menschen auf ewig überliefert, werden Freunde angeleitet, Feinde abgeschreckt und unterdrückt, Gesetze gestärkt, Traurige getröstet, Unbarmherzige besänftigt – kurz gesagt: durch sie wird alles Gute in der Welt machtvoll und heilbringend gestärkt.“ Des weiteren wollte Johannes, wie sein Brief belegt, die antiken Stilregeln auf die

Petrarca

Volkssprache anwenden,  „dieses ungeschliffene und rohe deutsche Kauderwelsch“. Johannes schrieb dies wohl augenzwinkernd. In Wirklichkeit schloss er sich damit italienischen Frühhumanisten wie Petrarca und Boccaccio oder dem englischen Zoll-   inspektor Geoffrey Chaucer an, die in ihren Volkssprachen gedichtet hatten. Ein aufstrebendes Bürgertum, das zwar lesen und schreiben konnte, aber nicht Latein, war hungrig nach alter und neuer Literatur in verständlicher Sprache.

Peter Rothers war ein Jugendfreund und Mitschüler von Johannes im Kloster Tepl. Er hatte Kontakte zum Prager Hof und wohl auch zum dortigen Kanzler Johannes von Neumarkt. Dieser gelehrte Bischof, der mehrere Diözesen betreute, war mit Francesco Petrarca befreundet, dem italienischen Gelehrten, Dichter und Diplomaten. Dieser besuchte Prag 1356 als Gesandter der Mailänder Visconti. Es gibt Anzeichen, dass Johannes einige Zeit am Prager Hof verbracht hat. Neumarkt könnte großen Einfluss auf ihn gehabt haben.

Johannes baute nachweislich auf Traditionen auf, die freilich so alt noch nicht waren. Dabei führt die Spur zunächst nach Frankreich, wo er wahrscheinlich in Paris studierte. Hier kannte man literarische „Totenklagen“ (Complaintes funèbres), in denen ebenfalls lamentatio und accusatio, die Klage über den Tod und die Anklage des Todes, verbunden sind. Ein Zeitgenosse von Johannes war Eustache Deschamps, der eine volkssprachliche „Klage über den Tod einer tugendhaften und gläubigen Frau“ in Reime fasste; sie heißt Marguerite, so wie die Betrauerte im Ackermann-Büchlein!

Kaiser Friedrich III. krönt 1442 Enea Silvio Piccolomini – Dichter, Jurist und humanistischer Aktivist – auf dem Nürnberger Reichstag zum „Poeta laureatus“

Zudem war ihm die lateinische „Abhandlung über die Grausamkeit des Todes“ bekannte, er übernahm daraus einige Ideen. Auch dort besteht der Tod gegenüber einem „Anwalt der Welt“ darauf, ein Organ des göttlichen Willens zu sein. Dass es ohne Tod zur Überbevölkerung käme, findet man darin ebenfalls. Auch aus dem weitverbreiteten „Streitgespräch zwischen Mensch und Tod“ hat Johannes sich bedient. Thematik, literarische Form und Volkssprachlichkeit des „Ackermann“ lagen in der europäischen Luft.

Dass das Ackermann-Büchlein über diese Vorlagen dennoch weit hinausgeht, belegt sein späterer Erfolg. Der Humanismus steckte in seinen Anfängen und entfaltete seine ganze Wucht erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und dies auf verschiedenen Spuren. Bei Petrarca zeichnet sich bereits ab, wo es hingehen sollte: in Richtung Wissensrevolution, kulturelle Erneuerung und

Bildungsreform. Dahinter steckte ein durchaus politischer Anspruch. Parallel dazu verliefen religiöse und soziale Reformbewegungen.Petrarcas Kritik richtete sich gegen einen Schul- und Universitätsunterricht, der

Aristoteles hält eine Vorlesung vor Studierenden

formelhaften Denkzwängen unterlag und die freie Entwicklung des Menschen behinderte. Poesie sollte an der Universität nicht nur gleichberechtigt sein mit Juristerei  und Medizin. Vielmehr käme ihr bei der Erlangung von Weisheit und Tugend eine besondere Rolle zu. Die in scholastischen Argumentationsmustern erstarrte Philosophie sollte durch schöne, lebendige und volksnahe Sprache belebt werden. Die Scholastik, im 13. Jahrhundert mit Thomas von Aquin eine Denkmethode auf der Höhe der Zeit, rief mittlerweile  Spott hervor. Johannes von Saaz stellt den Tod als ihren Repräsentanten vor, wenn er ihn sagen lässt:

„Du fragest, was wir sind. Wir sind nichts und doch etwas. Deshalb nichts, weil wir weder Leben noch Sein, weder Gestalt noch Verstand haben, nicht Geist sind, nicht sichtbar sind, nicht greifbar sind. Deshalb etwas, weil wir des Lebens Ende sind, des Seins Ende, des Nichtseins Anfang, ein Mittel zwischen beiden. Du fragest, von woher wir sind. Wir sind von überall und doch von nirgends. Deshalben von überall, weil wir in alle Ecken der Welt gelangen; deshalben von nirgends, weil wir von nirgends hergekommen und aus dem Nichts sind.“

Der heilige Thomas von Aquin (1225-1274) als Lehrer an der Sorbonne, der theologischen Fakultät in Paris.

„Gaukeleien treibt Ihr mit mir“, schimpft der Ackermann an anderer Stelle, aber durchaus passend zu dieser scholastischen Wortfuchserei. „Unter Wahrheit mischt Ihr mir Falsches und wollt mir mein ungeheures Sinnenleid, Vernunftleid und Herzeleid aus den Augen, aus den Sinnen und aus dem Gemüte schlagen. Ihr schafft es nicht, denn mich bedrückt mein schwerer, arger Verlust, den ich niemals ersetzen kann.“ Der Ackermann will Mitleid und Trost. Das bekommt er von der Schulphilosophie nicht, nur die Poesie kann das vermitteln.

Der Rektor der Saazer Lateinschule wurde von der Stadt bestellt, wie ein königliches Privileg 1335 ausdrücklich bestätigte. Demnach war dieser nur dem Stadtrichter, dem Rat und der Bürgerschaft verpflichtet „und der Pfarrkirche mit nichts anderem als dem Gesang des Schulchors im Gottesdienst“. Damit war die Schulleitung dem kirchlichen Zugriff vollständig entzogen. Unter  Johannes wurden auffällig viele Saazer Schüler von der Prager Universität aufgenommen. Viele Eltern bedachten ihren Schulmeister in ihrem Testament. 

Lehrer an der Pariser Universität

Was den Schulstoff anging, gehörte – wie man den Saazer Formelbüchern entnehmen kann – Boethius dazu und der „Cato“, ein Schulbuch, das in Versform auch Anstand und Benehmen lehrte. Boethius (480-525) schrieb Lehrbücher über antike Philosophie. Das war ziemlich traditionelle Literatur, die dem Lehrer freilich Raum ließ für eigene Interpretationen. Der Ackermann bringt sie gegen den frauenlästernden Tod in Stellung: „In manches weisen Meisters Schriften liest man, daß ohne Weibes Steuer niemand kann mit Glück gesteuert werden. Denn Besitz von Weib und Kindern ist durchaus nicht der geringste Teil des irdischen Glücks. Mit solcher Wahrheit hat den trostreichen Römer Boethius beschenkt die Philosophia, die weise Meisterin.“

weiter zu HUMANISMUS II. DAS BILD VON MENSCHEN