HUMANISMUS III: DIE WÜRDE DES MENSCHEN

Der vitruvische Mensch“, Zeichnung von Leonardo da Vinci, 1492

Im Dezember 1486 schrieb Giovanni Pico della Mirandola eine Rede, die er zur Begrüßung auf einem europäischen Gelehrtenkongress („Disputation“) in Rom halten wollte, zu dem der Papst eingeladen hatte. Der Text wurde 1494 unter dem Titel De hominis dignitate („Über die Würde des Menschen“) veröffentlicht. Doch die Veranstaltung wurde abgesagt, und Pico befand sich wenig später auf der Flucht vor dem Scheiterhaufen.

Was war passiert? Pico beschäftigte sich schon als Kind mit Philosophie, probierte es mit der Juristerei und wandte sich schließlich mit Fünfzehn den „Humanistischen Studien“ zu. Dabei erweiterte er das klassische Studium der alten Sprachen durch Hebräisch, Aramäisch und Arabisch. Zeitgenossen taten es ihm gleich. Dies bedeutete eine folgenreiche Erweiterung des Bildungs- horizonts über die „Latinitas“ hinaus. Dadurch war die Deutungshoheit der Kirche über die Antike bedroht.

Pico de la Mirandola (1463–1494),

Was Pico, mit erst dreiundzwanzig Jahren ein Wunder an Gelehrsamkeit, in Rom vorzutragen gedachte, waren 900 Thesen. Er wollte darin die fundamentale Übereinstimmung aller philosophischen und religiösen Lehren aufzeigen, die letztlich alle im Christentum enthalten seien, und damit zur weltweiten Verständigung und all-      gemeinem Frieden beitragen. Besondere Sprengkraft hatte die Vorrede, in der er Gott zu Adam sprechen lässt:

„Die begrenzte Natur der anderen Geschöpfe kann sich nur innerhalb meiner Gesetze entfalten. Du dagegen bist von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, den ich dir überlassen habe, dass du dir selbst deine Natur bestimmest. In der Mitte der Welt stehst du und sollst dich selbst gestalten, wie du willst. Du kannst nach unten ins Niedere, Tierische entarten; du kannst dich ins Höhere, Göttliche aufschwingen, ganz nach deinem Belieben.“

Martin Luther

Das hört sich an wie der Ackermann, wenn er darauf besteht, daß „der Mensch aller Kunst, Schönheit und Würde voll“ sei, und ihn „das allerachtbarest, das allergeschicktest und das allerfreiest Werkstück Gottes“ nennt. Vom Wort „Freiheit“ soll man sich freilich nicht täuschen lassen. Die Freiheit des Christenmenschen war eine fromme Parole, die von Martin Luther erneuert werden würde. Johannes von Saaz, Pico della Mirandola und andere Humanisten meinten jedoch nicht die Freiheit, sich zwischen Gott und dem Satan zu entscheiden; auch nicht die Freiheit, dem eigenen Bekenntnis zu folgen. Sie behaupteten vielmehr die Ungebundenheit des Menschen, sein Leben „in der Mitte der Welt“ frei zu gestalten.

Erasmus von Rotterdam

Diese Freiheit wurde freilich auch als Pflicht angesehen. Da die Menschen unfertig auf die Welt kämen, müssten sie ihre Naturanlagen selbständig weiterentwickeln. „Menschen werden nicht als Menschen geboren, sondern zu Menschen gebildet“: So brachte es Erasmus von Rotterdam  auf den Punkt.

 Als Leitfaden dienten „humanistische Studien“ (studia humanitatis). Der humanistische Bildungskanon schloss im Wesentlichen die alten Sprachen ein, die musischen Fächer sowie Geschichte, Pädagogik und Moralphilosophie. Der Gipfel des Bildungsziels war der uomo universale („Universalmensch“), der nicht nur alles weiß, sondern auch alles kann. Für die Zeitgenossen verkörperten Leonardo da Vinci und der Kunstkritiker Leo Battista Alberti (1404-1472) diesen Typus. Beide waren in mehreren Berufen  und Disziplinen tätig

Dabei zielte die humanistische Bildung auf den ganzen Menschen, also auch auf Anstand und Benehmen. Laut Philipp Melanchthon (1497-1560) würde durch sie nicht nur die Sprache verfeinert, sondern „die wilde Ungeschlachtheit“ der menschlichen Veranlagung korrigiert. „Durch diese Verfeinerung können die meisten ihre wilde Art abstreifen und in ihrer Wesensart sanfter und ruhiger werden.“ Was wir heute unter Humanität verstehen – Achtung vor dem Mitmenschen, Menschenliebe, Mitleid –, kam in diesem Bildungsprogramm erst an zweiter Stelle.

Die Menschwerdung im humanistischen Sinne setzte neugierige, wissbegierige und kreative Menschen voraus, die bereit und fähig waren, ihre Erkenntnisse mit anderen zu teilen. Tatsächlich bildeten die Humanisten eine europaweite „Gelehrtenrepublik“, deren Mitglieder sich in ständigem geistigen Austausch befanden.

Das Jenseits spielt im humanistischen Denken keine Rolle mehr. Das wird bei Johannes von Saaz deutlich, der wie Pico ganz innerweltlich denkt. Was ist der Tod im Ackermann-Büchlein? Jedenfalls kein Sündenlohn, keine verdiente Strafe, auch keine gnädige Heimholung ins ewige Himmelreich, überhaupt kein theologisch zu rechtfertigendes Ereignis; stattdessen eher im Gegenteil ein Webfehler in der Schöpfung – gleichwohl eine mit Vernunft zu akzeptierende innerweltliche Wirklichkeit, eine biologische Notwendigkeit.

Albrecht von Eyb (1420-1475), , schrieb ein heute noch aufgelegtes „Ehebüchlein“

Gott bekommt zwar die menschliche Seele, doch vom Himmel ist kaum die Rede. Dessen Versprechen wiegt offensichtlich nicht die „irdischen Wonnen“ auf, die Johannes immer wieder beschwört, insbesonders die der Ehe: „Wonnesam, lustvoll, froh und wohlgemut ist ein Mann, der ein handsames Weib hat“. Er spart auch nicht mit Lob für die starke Frau: „So tapferen Mann sah ich nie, der sich recht mutig zeigte, ohne daß er durch Frauen Zuversicht gestärkt würde. Kurz gesagt: aller Welt Stütze, Stärkung und Förderung sind die edlen Frauen.“

Johannes von Saaz schiebt dem Tod die Rolle des „Frauenlästerer“ zu. Er konnte für dessen Schimpfrede nicht nur auf zeitgenössische Franziskanerpredigten zurückgreifen, sondern auch auf ältere literarische Vorbilder. Berühmt-berüchtigt war Matthäus von Boulogne-sur-Mer, ein Domkaplan, der sein Gelübde gebrochen und geheiratet, damit aber wohl nicht die besten Erfahrungen gemacht hatte. 1300 schrieb er sich die Lamentationes Matheoli, „Die Klagen des Matthäus“ von der Seele. Die französische Übersetzung hundert Jahre später machte das zweifelhafte Werk populär.

Gegen diese Misogynie gab es jetzt Widerspruch, nicht nur von Johannes. Zur selben Zeit machte eine Poetin und Literatin am französischen Hof auf sich aufmerksam: Christine de Pizan (Pisan). Als gute Humanistin verfasste sie für den Königssohn ein Erziehungsbuch („Buch der Klugheit“, 1405). Sie dichtete und schrieb, neben anderem, über die Liebe und deren Verlust durch den Tod des Ehemanns, über Geschlechterbeziehung und gute Sitten im Umgang der Geschlechter. Sie kritisierte das Frauenklischee im berühmten „Rosenroman“ (Roman de la Rose, 1280) und verwahrte sich gegen die Beschimpfung der Frau in den Lamentationes.

Christine Pizan plant mit Hilfe von „Vernunft“, „Gerechtigkeit“ und „Rechtschaffenheit“ die „Stadt der Frauen“

Berühmt bis heute ist ihr „Buch der Stadt der Frauen“ (1405). Darin erscheinen ihr im Traum die Allegorien „Vernunft“, „Rechtschaffenheit“ und „Gerechtigkeit“, die sie auffordern, eine Zuflucht für Frauen vor den Verleumdern und Hassern ihres Geschlechts  zu errichten: die „Stadt der Frauen“. Und dann erzählt sie von den vielen klugen und tapferen Frauen aus Mythologie, Geschichte und Gegenwart. „Stadt der Frauen“ gilt als eines der frühesten feministischen Werke und als Anstifter der „Frauenfrage“ (querelle des femmes).

Bemerkenswert ist, dass sich die Autorin nicht mit Schelte für offene Frauenverachtung begnügt, sondern die allgemeine männliche Überheblichkeit und Geringschätzung weiblicher Fähigkeiten aufdeckt. Als erstes fordert sie Geschlechtergerechtigkeit bei der Ausbildung: „Wenn es üblich wäre, kleine Mädchen in die Schule zu schicken, wenn sie generell dazu gebracht würden, die Wissenschaften zu lernen wie Männer, würden sie genauso perfekt lernen und die Feinheiten aller Künste und Wissenschaften verstehen, wie es Buben tun.“  Die Würde des Menschen sollte auch für die Frauen gelten.

Feminismus in der Frührenaissance:

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